Gesamtpersonalrat erreicht epochale Vereinbarung zur Gestaltung der Digitalisierung und der sogenannten „KI“

Nach mehrjähriger Vorarbeit ist es dem Gesamtpersonalrat der Landeshauptstadt Stuttgart (GPR LHS) gelungen, einen außergewöhnlichen und epochalen Erfolg auf dem Weg der mitbestimmten Gestaltung der Digitalisierung und der sogenannten „Künstlichen Intelligenz“ („KI“) zu erringen. Unter der Leitung der GPR-Vorsitzenden Claudia Häussler und ihres GPR-Kollegen Chris Purz erreichte das Team des GPR die Durchsetzung einer Rahmendienstvereinbarung zur Digitalisierung und Informationstechnik. Der Erfolg wurde möglich durch die enge Zusammenarbeit zwischen dem GPR LHS und dem „Forum Soziale Technikgestaltung“. Der Leiter des „Forum Soziale Technikgestaltung“, Welf Schröter, trug zur Vorbereitung bei und begleitete das Vorhaben als Berater des GPR. Die Rahmen-DV wurde im Mai 2022 unterschrieben. Zur DV in der Länge von 11 Seiten gehören rechtlich gleichgestellte acht Anlagen mit abermals zusammen 11 Seiten Umfang.

Ein besonderes Kennzeichen der Rahmen-DV sind die zahlreichen Innovationsimpulse, die auf Eigeninitiative der Beschäftigtenvertretung entstanden und die vom öffentlichen Arbeitgeber mitgetragen werden. Nachfolgend ist nach einer Vorbemerkung die Zusammenfassung der wichtigsten Inhalte des epochalen Dokumentes zu lesen. Am Ende findet sich das 22-seitige Dokument als pdf-Datei, um damit Kolleginnen und Kollegen in anderen Kommunen aber auch in Industrie und Dienstleistung zum eigenaktiven Handeln zu ermutigen. Inzwischen wurde die Rahmen-DV für den „Deutschen Personalräte-Preis 2022“ nominiert.

Vorbemerkung zur Entstehung der DV 

Auf Eigeninitiative erarbeitete der GPR LHS den Entwurf einer Rahmendienstvereinbarung zur Gestaltung der digitalen Transformation der Landeshauptstadt Stuttgart und zur Erweiterung der Mitbestimmung. Im Zentrum stehen dabei die Zukunftsorientierung (nicht nur die nachholende Digitalisierung sondern auch die vorausschauende Gestaltung sog. „KI“), die Sicherung der  Beschäftigung, der verbindliche Vorab-Zukunftsdialog, der moderierte Spezifikationsdialog zur Gestaltung algorithmischer Systeme, die strukturiert Prozessdarstellung der „KI“-Implementierung mit Veto-Recht, Qualifizierung, Barrierefreiheit und die Ausrichtung zur Assistenztechnik.

Die zunehmende Zahl der geplanten Einführungen digitaler Werkzeuge und Plattformen hat die Mitbestimmung vor eine komplexe Herausforderung gestellt. Eine Rahmendienstvereinbarung sollte aus der Sicht des GPR die Abläufe transparent und verbindlich strukturieren sowie Prozessabläufe regeln, um das Aushebeln der Mitbestimmung zu vermeiden. Der GPR wollte statt einer nur reaktiven Rolle den proaktiven Part der Gestaltung beteiligungsorientiert einnehmen: Digitalisierung ja, jedoch mitbestimmt. Das Hintergehen der Mitbestimmung galt es zu unterbinden. Der GPR ergriff die Initiative.

Die Mitglieder von GPR und PRs haben sich über die neuen digitalen Innovationen kundig gemacht, sich qualifiziert und sich beteiligungsorientiert untereinander abgestimmt. Die Hinzuziehung einer externen Beratung für den GPR hat die Hinwendung zum Blick auf die Zukunft der Kommunalverwaltung unterstützt. Über ein Jahr lang hat der GPR mit dem öff. Arbeitgeber verhandelt. Dabei drängte der GPR auf neue Verfahren und Kriterien zur Einführung algorithmischer Systeme. Die sog. „KI“ soll Assistenztechnik bleiben. Aus ethischen Gründen soll die sog. „KI“ nicht anstelle des Menschen entscheiden.

Am Ende der erfolgreichen Verhandlung steht die „Rahmendienstvereinbarung zur Digitalisierung und Informationstechnik bei der Landeshauptstadt Stuttgart“. Ein einschlägiges Werk auf elf Seiten mit zzgl. 8 Anlagen. Im „Zukunftsdialog“ besprechen der öff. Arbeitgeber und der GPR die digitale Strategie vor (!) ihrer Umsetzung. In Kooperation mit der städt. IT-Abteilung konnten die Prozessmodellierung und der „Spezifikationsdialog“ vereinbart werden. Weitreichende Schritte der Qualifizierung und Beschäftigungssicherung konnten verankert werden. Diese Rahmen-DV formt die „KI“-Technik zur Assistenz. Soziale Innovation geht vor technischer Innovation.

Kurzzusammenfassung der Eckpunkte der Rahmendienstvereinbarung

Unsere Kolleginnen und Kollegen des Gesamtpersonalrates der Landeshauptstadt Stuttgart haben durch ihre Initiative eine neue innovative Richtung in der Kultur der Mitbestimmung eingeschlagen. Wir haben eine neue Praxis der Mitbestimmung und eine Erweiterung der Mitbestimmung in einer

„Rahmendienstvereinbarung zur Digitalisierung und Informationstechnik bei der Landeshauptstadt Stuttgart (nachfolgend Rahmendienstvereinbarung) zwischen der Landeshauptstadt Stuttgart, vertreten durch den Oberbürgermeister und dem Gesamtpersonalrat, vertreten durch die Vorsitzende“

angestoßen, ausgehandelt und verbindlich gemacht. Soziale Innovationen werden mit technischen und organisationellen Innovationen verknüpft.

Das Gesamtwerk der Rahmen-DV fügt sich aus 11 Seiten verbindlicher Vereinbarung mit weiteren acht – im gleichen Sinne verbindlichen – Anlagen im Umfang von 11 Seiten zusammen. Die Rahmen-DV umfasst somit insgesamt 22 Seiten.

Die Besonderheit der neuen Rahmen-DV gründet in der Verbindung reaktiver traditioneller Schutzaufgaben der Beschäftigtenvertretung mit vorausschauender, proaktiver Zukunftsgestaltung der kommenden Arbeitswelten. Dem GPR geht es nicht nur um die soziale Gestaltung der gegenwärtigen Arbeitsumgebungen sondern zugleich um die arbeitnehmerorientierte Einbettung der algorithmischen Assistenztechnik der nahen Zukunft (der sogenannten „Künstliche Intelligenz“) in den arbeitsweltlichen Transformationsprozess.

Die Initiative dazu ging von den Kolleginnen und Kollegen im Gesamtpersonalrat aus. Mit einem intensiv und qualifiziert ausgearbeiteten Entwurf überraschte das Gremium den Arbeitgeber, der an vielen Stellen noch in althergebrachten Vorstellungen von Techniknutzungen befangen war. Durch einen strategischen Dialog der Beschäftigtenvertretung mit Vertreterinnen der Stadtverwaltung aus unterschiedlichen Fachbereichen konnte ein hochkompetentes Aushandlungsergebnis und eine Zustimmung der Spitze der Stadtverwaltung erreicht werden.

Die zentralen Neuerungen der tragfähigen Lösung lassen sich in sieben Innovationen beschreiben:

  • Erste Innovation: Es gibt nun die Festlegung eines transparenten und zugleich differenzierten Verfahrens zur Einführung neuer IT-Strukturen und Software-Systeme. Diese – auch grafisch dargestellte – Prozesskette der mitbestimmten Implementierung differenziert die Qualität von technischen Ebenen und weist ihnen unterschiedliche Verfahrensschritte zu. Dadurch werden die Kommunikationsprozesse zwischen IT-Teams und GPR allseitig transparent, verbindlich und entlastet. Neue Regularien vereinfachen und beschleunigen die Einführung von Standardsoftware. Die Partner können sich auf die großen technologischen Herausforderungen und deren präventiv zu behandelnden Folgen konzentrieren.
  • Zweite Innovation: Der GPR hat mit der Spitze der Stadtverwaltung und den IT-Teams einen speziellen „Zukunftsdialog“ vereinbart: „Der Zukunftsdialog unterstützt eine vorausschauende, strukturierte und beteiligungsorientierte Umsetzung von Digitalisierungsvorhaben zwischen Verwaltung und Gesamtpersonalrat sowie weiterer Akteur*innen und dient der Prozessvereinfachung und Beschleunigung.“ Der GPR hat darin Initiativrecht. Der Zukunftsdialog tagt zwei Mal pro Jahr.
  • Dritte Innovation: Um die Interessen der Beschäftigten angesichts des digitalen Wandels zu schützen und Entlassungen zu vermeiden, enthält die Rahmen-DV den vereinbarten Passus: „Die Landeshauptstadt Stuttgart verzichtet auf betriebsbedingte Kündigungen aufgrund der Digitalisierung.“
  • Vierte Innovation: Angesichts der Perspektiven, dass ein Teil der neuen algorithmischen Steuerungs- und Entscheidungssysteme („KI“-Systeme) nach ihrem Start schwerlich oder gar nicht mehr ausreichend gestaltbar sind und eine generelle Dokumentationsfähigkeit der innersoftwaretechnischen Ablaufprozesse kaum mehr gegeben ist, muss der Gestaltungsprozess vor (!) der Implementierung solcher sich selbstverändernder Software-Systeme (sogenannter „selbstlernender Software“) stattfinden. In Kooperation mit dem Projekt „Der mitbestimmte Algorithmus“ des „Forum Soziale Technikgestaltung“ wurde in der Rahmen-DV ein neuer Mitbestimmungsbaustein eingeführt. Die Partnerinnen und Partner verständigten sich auf die verbindliche Einführung der Praxis von „moderierten Spezifikationsdialogen“. Diese Dialoge vor der Implementierung sollen soziale Technikgestaltung im algorithmischen System auf der Basis des Erfahrungswissens der Kolleginnen und Kollegen gewährleisten. In der DV heisst es unter anderem: „Aus den gemeinsam gewonnenen Erfahrungen in den Dialogen werden verbindliche Anforderungen formuliert. Diese stellen die Grundlage für zukünftige Einführungsprozesse dar und sollen diese erleichtern.“ Für nur regelbasierte Softwareanwendungen ist der Spezifikationsdialog nicht zuständig. In den Spezifikationsdialogen hat der GPR ein Initiativrecht.
  • Fünfte Innovation: Im genau beschriebenen Verlaufsmuster, wie neue IT-Technik im Mitbestimmungsprozess zu behandeln ist, wurde zugunsten des GPR ein Vetorecht verankert: „Wenn die Personalvertretung dem Antrag bei Erfordernis einer Zustimmung nicht zustimmt, dann kann die Anforderung / der Change nicht umgesetzt werden.“
  • Sechste Innovation: Im Rahmen der notwendigen Qualifizierungsmaßnahmen für die Beschäftigten müssen auch Kolleginnen und Kollegen aus den Personalräten und dem Gesamtpersonalrat sich weiterbilden können. Dazu garantiert die Rahmen-DV unter anderem: „Die Beschäftigten der Landeshauptstadt Stuttgart müssen auf diesem Weg aktiv durch Fort- und Weiterbildung sowie Personalentwicklung begleitet werden. Dies geschieht durch die rechtzeitige Bereitstellung von geeigneten Maßnahmen im Bereich Personalentwicklung, der Ausbildung, der Führungskräfteentwicklung und der Fortbildung. Auch den Mitgliedern von Personalvertretung und Schwerbehindertenvertretung, die an diesen Themen und Projekten beteiligt sind, muss Gelegenheit gegeben werden sich über aktuelle Entwicklungen, Technologien und Verfahren zu informieren bzw. fortzubilden.“
  • Siebte Innovation: Die Unterzeichnenden der neuen Rahmen-DV erklären, dass sie bei der Nutzung algorithmischer Steuerungs- und Entscheidungssysteme (sogenannter „KI“-Systeme) an der Orientierung auf die „Assistenztechnik“ festhalten: „Der Mensch steht an erster Stelle und die Technik hat eine dienende und unterstützende Funktion.“

In hervorgehobener Weise unterstreicht die Rahmen-DV die Bedeutung der informationellen Selbstbestimmung: „Um das Vertrauen der Beschäftigten sowie der Bürger*innen in den digitalen Wandel zu stärken, vereinbaren sich die Vertragsparteien zu einer ,sensiblen Datenschutzkultur‘ beim Umgang mit personenbezogenen und personenbeziehbaren Daten und zur ,Förderung einer Kultur des Datenselbstschutzes‘ der Nutzer*innen. Diese vereinbarte sensible Datenschutzkultur setzt die rechtlichen, technischen, organisatorischen und sozialen Standards des Landesdatenschutzgesetzes und der europäischen Datenschutzgrundverordnung aktiv um. Damit wird die Bewahrung des Rechtes auf informationelle Selbstbestimmung des Individuums und der Schutz der Privatheit gewährleistet.“

Neben den dargelegten sieben Innovationen regelt die neue Rahmen-DV ebenso die Kernthemen einer Beschäftigtenvertretung wie Datenschutz, Datensicherheit, Rolle der Schwerbehindertenvertretung, Ortung, Profilbildung, Cloudlösungen, Arbeits- und Gesundheitsschutz, Qualifizierung, Weiterbildung, Barrierefreiheit, Social Media, Haftung, vorausschauende Arbeitsgestaltung, keine Leistungs- und Verhaltenskontrollen und Changemanagement: „Die Umsetzung der Digitalisierung wird so ausgerichtet, dass die Prinzipien der Chancengleichheit, der Integration, der Inklusion und der Diversity beachtet werden.“

In der Rahmen-DV wurde zudem festgelegt, dass der GPR auf Kosten des Arbeitgebers externe Beratungsleistungen nutzen kann.

Abschließend sei betont, dass den Kolleginnen und Kollegen des GPR auch der gute Service für Bürgerinnen und Bürger am Herzen liegt. In der Rahmen-DV wurde daher auf Drängen der Personalrätinnen und Personalräte festgehalten: „In den kommenden Jahren werden neben den digitalen Angeboten Verwaltungsleistungen auch vor Ort als ,analoger Grundservice‘ mit persönlichem Kontakt angeboten.“

Als Vertiefung seien die 22 Seiten (Rahmen-DV mit ihren acht verbindlichen Anlagen) beigefügt. (Hier bitte die pdf-Datei öffnen oder herunterladen.)

Kontakt und Rückfragen bitte an: schroeter@talheimer.de

Zum Stand der FST-Diskussion: Ein aktueller Beitrag zum Nachlesen

Soziale Gestaltung der sogenannten „Künstlichen Intelligenz“:
Das FST-Projekt „Der mitbestimmte Algorithmus“

Das „Forum Soziale Technikgestaltung“ (FST) hat eine Reihe zusätzlicher Impulse und Gedanken entwickelt, wie die sogenannte „Künstliche Intelligenz“ sozial, ethisch und rechtlich gestaltet werden sollte. Einen Überblick über den Stand der Überlegungen vermttelt ein jetzt neu veröffentlichter Text. Der vom Leiter des FST verfasste Beitrag ist in dem soeben erschienenen Online-Magazin „DENK-doch-MAL“ veröffentlicht. „DENK-doch-MAL“ wird gemeinsam vom IG Metall Vorstand und von der ver.di Bundesverwaltung getragen. Der IG Metall-Vorsitzende Jörg Hoffmann hat die presserechtliche Verantwortung. Die betreuende lektorierende Redaktionsarbeit liegt in den kompetenten Händen von Bernd Kaßebaum und dem „DENK-doch-MAL“-Team. Ihnen sei für die gute Zusammenarbeit besonders gedankt.

Der FST-Beitrag „Der mitbestimmte Algorithmus“ – Ein erweiternder Ansatz zur Gestaltung der sogenannten „Künstlichen Intelligenz“ geht auf folgende Aspekte ein:

  • Dreißig Jahre „Forum Soziale Technikgestaltung“
  • Ein klärend helfender Begriff: „Nachholende Digitalisierung“
  • Kritik des unzureichenden Begriffes „Künstliche Intelligenz“
  • Ein notwendiger neuer Begriff: „Delegationstechnik“
  • Ein korrigierender Begriff: „Algorithmisches Steuerungs- und Entscheidungssystem“
  • Ein überraschender Begriff: „Sich selbst verändernde Software-Werkzeuge“
  • Ein unabdingbarer Begriff: „Antizipierende vorausschauende Arbeitsgestaltung“
  • Ein zusätzlicher Praxisbegriff: „Moderierte Spezifikationsdialoge“
  • Etablierung von belastbaren Erfahrungsdiskursen

Der Text ist frei zugänglich unter dem Link 

 

Einladung zum Fachworkshop: Ethische und soziale Kriterien zur Gestaltung algorithmischer Steuerungs- und Entscheidungssysteme

Ein Dialog zwischen dem „Forum Soziale Technikgestaltung“ (FST), dem Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO und Cyber Valley anlässlich „Dreißig Jahre Forum Soziale Technikgestaltung“

Workshop am 27. Oktober 2021 von 14.30 Uhr bis 18.45 Uhr in den Räumen des Fraunhofer IAO in Stuttgart-Vaihingen

Seit langem arbeiten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an mathematisch-technischen Systemen, die die Arbeit des Menschen auf sogenannte „intelligente“ Weise effizienter gestalten und erleichtern sollen. Dabei entstehen auf der Basis von Maschinellem Lernen auch vielfältige Modelle oder Systeme, die unter dem Begriff „Künstliche Intelligenz“ zusammengefasst werden. Im Kern geht es dabei oft um die Frage, wie komplexe Analyseprozesse auf ein digitales algorithmisches System übertragen werden können und nach welchen mathematisierbaren Kriterien diese (Assistenz-)Systeme Entscheidungen treffen sollen.

Das gewerkschaftliche „Forum Soziale Technikgestaltung“ befasst sich seit dreißig Jahren mit der Humanisierung digital gestützter Arbeitswelten. Seit mehreren Jahren entwickelt das FST Kriterien zur Gestaltung algorithmischer Steuerungs- und Entscheidungssysteme. In dem Dialog-Fachworkshop soll der bisherige Stand der FST-Kriterien zur Diskussion gestellt und weiterentwickelt werden. Das FST spricht in Ergänzung zum Begriff „Assistenztechnik“ von der notwendigen Gestaltung der „Delegationstechnik“.

Das Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO entwickelt gemeinsam mit Unternehmen, Institutionen und Einrichtungen der öffentlichen Hand Strategien, Geschäftsmodelle und Lösungen für die digitale Transformation. Es ist mitverantwortlich für das KI-Fortschrittszentrum »Lernende Systeme«, das durch Technologietransfer die Lücke zwischen KI-Spitzenforschung und der breiten Anwendung in der produzierenden Industrie schließt.

Cyber Valley ist Europas größtes Forschungskonsortium im Bereich der künstlichen Intelligenz mit Partnern aus Wissenschaft und Industrie. Das Land Baden-Württemberg, die Max-Planck-Gesellschaft mit dem Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme, die Universitäten Stuttgart und Tübingen sind u.a. die Gründungspartner dieser Initiative. Das Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO ist assoziiert mit Cyber Valley.

Ablauf

14.30 Uhr Begrüßung und Einführung
Ziele des Dialog-Workshops
Welf Schröter, Leiter des Forum Soziale Technikgestaltung beim DGB Baden-Württemberg
Dr. Matthias Tröndle, Cyber Valley, General Manager

14.45 Uhr Vortrag I
Ethische Anforderungen an die Gestaltung von KI-Technologien
PD Dr. Jessica Heesen, Forschungsschwerpunkt Medienethik und Informationstechnik (Leitung), Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften, Universität Tübingen

15.15 Uhr Rückfragen

15.30 Uhr Vortrag II
Soziale Kriterien für die Gestaltung algorithmischer Steuerungs- und Entscheidungssysteme zwischen Assistenz- und Delegationstechnik
Welf Schröter, Leiter des „Forum Soziale Technikgestaltung“, Mitbegründer der „Allianz Industrie 4.0 Baden-Württemberg“

16.00 Uhr Rückfragen

16.15 Uhr Kaffeepause

16.40 Uhr Vortrag III
Anforderungen an die Entwicklung von KI-Systemen
Dr. Matthias Peissner, Leiter Forschungsbereich Mensch-Technik-Interaktion, Fraunhofer IAO, Partner im Cyber Valley

17.10 Uhr Nachfragen

17.25 Uhr Vortrag IV
Die Gestaltung von KI-Systemen aus betriebsrätlicher Perspektive
Monika Heim, Festo SE & Co. KG, Betriebsrat Esslingen

17.55 Rückfragen

18.10 Uhr Moderierte Plenumsdiskussion der Vortragenden und Teilnehmenden
Moderation: Patrick Klügel, Cyber Valley, Public Engagement Manager

18.45 Uhr Ende der Veranstaltung

Eintritt frei. Anmeldung erforderlich bei: Welf Schröter schroeter@talheimer.de

 

Ist die Bezeichnung „Künstliche Intelligenz“ sinnvoll?

Im Widerstand der Alliierten gegen die Hitler-Diktatur haben sich in den vierziger Jahren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zusammengefunden, um durch neue Wege der Informationsverarbeitung dazu beizutragen, den Nationalsozialismus zu zerschlagen. Die heutige Debatte über die sogenannte „Künstliche Intelligenz“ hat eine lange Vorgeschichte. Da sei beispielhaft an den Tübinger Biokybernetiker Prof. Dr. Valentin Braitenberg erinnert, der in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts sein Engagement für „KI“ unter anderem mit dem Verweis auf die Shoah begründete.

Doch heute findet sich außerhalb des wissenschaftlichen Diskurses eine Fülle von Marketing-Versprechungen, die dazu geeignet sind, die Ideen, die hinter dem Traum der „KI“ stehen, erheblich zu beschädigen. Da verkünden große Firmen, dass demnächst das Auto besser denken könne als der Mensch. Was für ein Menschenbild steht hinter dieser Äußerung? An anderer Stelle des allgegenwärtigen Messe-Slangs werden alte Software-Hüte aus dreißig Jahren Digitalisierung als neue Produkte eines „KI“-Marktes präsentiert. Die Expertensysteme der neunziger Jahre, die Softwareagentensysteme aus der Zeit kurz nach der Jahrtausendwende und die Schlüsselanwendungen aus dem Jahr 2011 – gemeint sind die „Cyber-Physischen Systeme“ der „Industrie 4.0“ – sind plötzlich der jüngste Schrei der „KI“. Wir sollten nüchterner und ehrlicher werden. Helfen uns neue Etiketten für alte Produkte? Was gibt es schon lange? Was ist wirklich neu?

Die vermeintliche „KI“ ist auch mit den Worten „Robotik“ oder „selbstfahrende Autos“ nicht erklärt. Die mathematische Informationsverarbeitung ist Software. Das Blech der Roboter und der Autos ist nur das Anhängsel der Software. Die vernünftige Übersetzung des amerikanisch-englischen Wortes „artificial intelligence“ lautet nicht „Künstliche Intelligenz“ sondern „Künstliche Nachbildung“. Damit kommen wir dem Thema näher.

Seien wir mutig und ehrlich zugleich. Bei der Beantwortung der Frage, was tatsächlich neu ist, finden wir zu einer selbstbewussten Haltung des Respekts gegenüber verantwortungsbewussten IT-Teams zurück. Hinter dem Marketing-Hype steckt ein tatsächlicher Fortschritt: Was wir an neuen IT-technischen Leistungen vorfinden, hat aber nichts mit Software-„Intelligenz“ zu tun. Es „denkt“ nicht, „lernt“ nicht und hat kein „Ich“. Die Leistung steckt in brillanten Lösungen auf dem Gebiet der mathematischen und mathematisierenden Informationsverarbeitung. Brillante Mathematik. Von Menschen gemacht, von Menschen gestaltbar.

Das wirklich Neue liegt in mindestens zwei Perspektiven: Neben Software als starres, sich nicht veränderndes Werkzeug tritt Software als ein sich selbst veränderndes Werkzeug. Hinzu kommt die weitreichende Öffnung der Software-Entwicklung von der Qualität der „Assistenztechnik“ hin zum Potenzial der „Delegationstechnik“ (Schröter). Somit kann eine Software die Vollmacht bekommen, hinter dem Rücken des Menschen in Echtzeit rechtsverbindliche Prozesse (Transaktionen) zu analysieren, zu steuern und zu entscheiden. Das ist wirklich neu. Aber auch diese „Delegationstechnik“ „denkt“ nicht, „lernt“ nicht, hat kein „Ich“. Es bleibt Mathematik. Allerdings in exzellenter Form. Wir benötigen diese Technik unter anderem für das Erreichen der Klimaneutralität.

Sollen wir weiterhin von „KI“ reden? Es wäre ehrlicher, etwas tiefer anzusetzen. Vielleicht hilft – als provisorische Zwischenstufe für das Weiterdenken – nachfolgende Formulierung auf der Basis langjähriger Erfahrungen aus dem „Forum Soziale Technikgestaltung“ bei arbeitsweltbezogenen Technikeinführungen:

Es geht um die soziale Gestaltung „algorithmischer Steuerungs- und Entscheidungs-systeme“. Oder etwas umfänglicher ausgedrückt: Es geht um die Gestaltung „algorithmischer, sich selbst verändernder Software-Systeme für die arbeitsweltlichen Vorgänge wie Analyse, Entscheidungsvorbereitung, Prozesssteuerung und Entscheidungsvollzug im Feld der Assistenz- und Delegationstechnik“ (Schröter).

 

Betriebs- und Personalräte wollen den Vorrang menschlicher Entscheidungshoheit bei algorithmischen Systemen

Aus den vielfältigen Diskursen und Diskussionen im „Forum Soziale Technikgestaltung“ (FST) zum Thema „Der mitbestimmte Algorithmus“ entstanden dreißig generische Kriterien zur Vorab-Gestaltung von Algorithmen und algorithmischen Entscheidungssystemen (1). Zu den Kernpositionen gehören die eindeutige Einschränkung der personenunabhängigen Entscheidungskompetenz von Delegationssoftware und das Festhalten an gestalteter Assistenztechnik:

„Grundsätzlich hat zu gelten, dass in den Arbeits- und Berufswelten, in Betrieben, Dienstleistungszentren und Verwaltungen sowie in KMUs nur solche Software-Systeme Anwendung finden, die gestaltbar sind. Geschlossene und nicht gestaltbare Systeme verletzen die Mitbestimmung. Bei der Gestaltung und dem Einsatz ,autonomer‘ und ,selbstlernender‘ Algorithmen und algorithmischer Entscheidungssysteme gilt der Vorrang menschlicher Entscheidungshoheit und menschlicher Aufsicht. Bei der Gestaltung und dem Einsatz ,autonomer‘ und ,selbstlernender‘ Algorithmen und algorithmischer Entscheidungssysteme muss die Beherrschbarkeit der Systeme zu jedem einzelnen Zeitpunkt durch den Menschen gegeben sein.“(2)

Der Gesamtpersonalrat (GPR) der Landeshauptstadt Stuttgart hat In Zusammenarbeit mit dem „Forum Soziale Technikgestaltung“ den Entwurf einer „Lernenden Rahmen- und Zukunfts-DV zum Einsatz von Informations- und Telekommunikationstechnik bei der Landeshauptstadt Stuttgart“ vorgelegt. Darin strebt der GPR unter anderem an:

„Sollte eine Software-Anwendung nach ihrer Implementierung technisch nicht mehr gestaltbar sein oder deren Gestaltung nur mit großen technischen Aufwendungen und Kosten möglich sein, sind die Gestaltungsanforderungen des Gesamtpersonalrates vorab im Algorithmus der Software verbindlich zu verankern. Eine technisch eigenständige Aufhebung der Zweckbindung durch eine ,selbstlernende‘ Software selbst muss technisch ausgeschlossen werden.“ (3)

(1) Welf Schröter: Der mitbestimmte Algorithmus. Arbeitsweltliche Kriterien zur sozialen Gestaltung von Algorithmen und algorithmischen Entscheidungssystemen. In: Welf Schröter (Hg.): Der mitbestimmte Algorithmus. Gestaltungskompetenz für den Wandel der Arbeit. Mössingen 2019, S. 101–150.
(2) Ebd., S. 138.
(3) Markus Freitag, Claudia Häussler, Chris Purz, Welf Schröter: Chance auf einen geordneten Zukunftsprozess. In: Welf Schröter (Hg.): Der mitbestimmte Algorithmus. Gestaltungskompetenz für den Wandel der Arbeit. Mössingen 2019, S. 213–240, S. 232. (Darin enthalten ist der vollständige Wortlaut von „RZDV-ITTK-LHS Lernende Rahmen- und Zukunfts-DV zum Einsatz von Informations- und Telekommunikationstechnik bei der bei der Landeshauptstadt Stuttgart“ (Entwurf)“ Vorgelegt vom Gesamtpersonalrat der Landeshauptstadt Stuttgart 2019“.)

 

„Der mitbestimmte Algorithmus“ – Ein Buch mit Diskussionsergebnissen aus dem Forum Soziale Technikgestaltung

Im Denken einer konstruktiven Technikgestaltung liefert dieses Buch Einblicke in den Prozess der partizipativen Einführung neuer Technologien. Aus der Perspektive von Beschäftigten, Betriebs- und Personalräten sowie aus sozialwissenschaftlicher Sicht stellen die Autorinnen und Autoren eine Werkstatt-Zwischenbilanz zum Stand der Themen Plattformarbeitswelten, Algorithmen, algorithmische Entscheidungsprozesse und zum „mitbestimmten Algorithmus“ (Schröter) vor. Es geht um eine andere Annäherung an die Zukunft der Arbeit und die Arbeit der Zukunft. Dazu schlug das Netzwerk „Forum Soziale Technikgestaltung“ (FST) bereits im Jahr 2015 das Konzept eines „mitbestimmten Algorithmus“ vor. Nun geht es nicht mehr nur um den „Code“ sondern um die Demokratisierung des algorithmischen Entscheidungssystems als Ganzes.

Die bisherige Debatte über einen Aufbau von Gestaltungskompetenz für die demokratische Formierung „autonomer“ und „selbstlernender“ Software-Systeme erbrachte eine Reihe von grundsätzlichen (generischen) Kriterien für die zulässige Implementierung von neuer „Delegationstechnik“, die den Anspruch erhebt, an Stelle des Menschen rechtsverbindliche Entscheidungen in Echtzeit zu treffen. Dies überschreitet die bisherigen Vorstellungen einer „Assistenztechnik“. Die Autorinnen und Autoren des Bandes bringen Fachkenntnisse und Erfahrungen aus unterschiedlichen Arbeitswelten ein.

Die Texte zeigen Zusammenhänge zwischen Geschäftsmodellen und dem Einsatz der sogenannten „Künstlichen Intelligenz“ auf, beleuchten den Einsatz von Algorithmen in Fertigung und Verwaltung, beschreiben „Algorithmus-Kompetenzen“ und geben den Beschäftigtenvertretungen dreißig Kriterien zur Gestaltung algorithmischer Entscheidungssysteme an die Hand. Von sozialwissenschaftlicher Seite werden neue Plattformarbeitswelten wie externes und internes Crowdworking analysiert. Betriebsräte und Personalräte legen ihre Erfahrungen und Kenntnisse im Hinblick auf verrechtlichte Vereinbarungen zum Technik-Einsatz vor. Sie offenbaren die erworbene Qualität von Gestaltungskompetenz. Der vorliegende Band lädt zur Kontroverse und zu weiterer Vernetzung ein.

Klaus Kornwachs (Nicht vor der KI, vor den Geschäftsmodellen müssen wir uns fürchten), Oleg Cernavin (Algorithmus-Kompetenzen. Grundlage für reflexives und kritisches KI-Bewusstsein), Jan Etscheid, Jörn von Lucke (Anregungen für einen sozialverträglichen Einsatz von künstlicher Intelligenz im öffentlichen Sektor), Welf Schröter (Der mitbestimmte Algorithmus. Arbeitsweltliche Kriterien zur sozialen Gestaltung von Algorithmen und algorithmischen Entscheidungssystemen), Benedikt Simmert, Karen Eilers, Jan Marco Leimeister (Internet Crowd Work an der Schnittstelle sozialer und technischer Elemente der digitalen Arbeitsorganisation), Hannah Ulbrich, Marco Wedel (Forschungsprojekte als Experimentierräume für die Digitalisierung), Bernd Schneider, Bernhard Müller-Klinke, Katharina Parth (Digitalisierung in der Arbeitswelt. Neue Handlungsfelder für Belegschaftsvertreter), Andreas Otte, Welf Schröter in Zusammenarbeit mit Ingo Breite, Frank Gerth, Sylvia Laur, Volker Ost, Can Sekertekin, Andreas Tabor (Lebende Konzernbetriebsvereinbarung als soziale Innovation. Internes Crowdsourcing in der GASAG-Gruppe. Bedeutung – Bewertung – Vollständiger Wortlaut der KBV), Markus Freitag, Claudia Häussler, Chris Purz, Welf Schröter (Chance auf einen geordneten Zukunftsprozess. Gesamtpersonalrat (GPR) überreicht OB Kuhn den Entwurf einer „Lernenden Rahmen- und Zukunfts-Dienstvereinbarung IT und TK“ – Vollständiger Wortlaut des DV-Entwurfes).

Angaben zum Buch: Welf Schröter (Hg.): Der mitbestimmte Algorithmus. Gestaltungskompetenz für den Wandel der Arbeit. Mössingen 2019, 
ISBN 978-3-89376-181-4.

 

Perspektivwechsel in der Integrationsarbeit möglich

Die digitale Transformation erreicht immer weitere Bereiche der Arbeitswelt und der Gesellschaft. Mehr und mehr Akteure auf dem Gebiet der Sozialarbeit, die sich für Inklusion, Integration und Zusammenhalt einsetzen, suchen nach spezifischen Chancen für Menschen mit körperlichen oder kognitiven Beeinträchtigungen.

Zum Kreis der besonders innovativen Einrichtungen gehört das bhz Stuttgart e.V., ein Träger der Behindertenhilfe in Stuttgart mit diversen Standorten für ca. 400 Menschen mit ganz unterschiedlichen Behinderungen. Das jüngste öffentliche „bhz-Forum“ befasste sich mit dem Thema „Arbeit 4.0 – Arbeit für alle?!“: Wie kann es gelingen, dass auch in Zeiten von Digitalisierung und so genannter „Industrie 4.0“ Menschen mit Einschränkungen eine passende Arbeit finden?

Aus arbeitsweltlicher Sicht ermutigte dabei das Forum Soziale Technikgestaltung den sozialen Träger und sein Team, sich in die laufende, zumeist nur technik- und marktzentrierte Debatte um die Umsetzung von Vier-Null-Welten engagiert einzumischen. Derartige Träger sollten sich nicht nur mit eigenen internen Projekten abkapseln und sich nicht von anderen ab- oder ausgrenzen zu lassen. Die Inklusion von Menschen mit Beeinträchtigungen müsse eines der zentralen Motive der digitalen Transformation und der gesellschaftlichen Diskussion werden. Solche Einrichtungen sollten sich auch in die dominierenden Kernprojekte der CPS-Vorhaben hineinbegeben und dort wirken. Technische Innovationen brauchen soziale Innovationen. Gesellschaftliche und gesellschaftspolitische Prozesse dürfen nicht Ingenieur- und Informatik-Teams allein überlassen werden.

Vor allem aber bietet die Vier-Null-Welt der CPS-Technik und der „autonomen Software-Systeme“ ein Potenzial, mit dem ein Perspektivwechsel in der Schaffung von Wertschöpfung und Beschäftigung für Menschen mit Beeinträchtigungen möglich wird. Während ein nur markt- oder wettbewerbsbezogener Ansatz Technik schnell zur Rationalisierung und zum Beschäftigtenabbau formiert, könnten dagegen im Feld der sozialen Innovationen neuartige Wertschöpfungskreise dadurch wachsen, dass kluge Technik als Ermöglichende wirkt. Intelligente Assistenztechnik und humanoide Robotik erlauben es, Kompetenz- und Fähigkeits- sowie Fertigkeitslücken bei beeinträchtigen Menschen mit passgenauen smarten Lösung zu komplettieren und zu kompensieren. So lassen sich neue Aufträge aus der Realwirtschaft akquirieren. Das Team zählt.

Zielgruppenspezifische soziale Innovationen brauchen partizipativ gestaltete kluge Assistenztechniken. Deren Implementierung stärkt das Selbstbewusstsein der Zielgruppe, die mit eigener Arbeit zur Erwirtschaftung von Einkommen beitragen kann.