Das „neue Normale“ als Instrument des Rückwärtsganges

Wer Technik gestalten will, denkt vor allem in Möglichkeiten, in neuen werdenden Möglichkeiten. Technische Produkte, Werkzeuge, Plattformen sind keine unumstößlichen Gegebenheiten, die man hinnehmen muss. Technik ist von Menschen geschaffen und kann von Menschen verändert werden. Technikgestaltung folgt der Vorstellung, dass die in der Technik und hinter der Technik stehenden Interessen offen angesprochen und transparent gemacht werden. Es gibt keine „neutrale“ Technik.

Technische Lösungen sind immer Ausdruck des Wertezusammenhangs und der Interessen jener Menschen, die solche technischen Lösungen hervorbringen oder dafür bezahlt werden. Soziale Technikgestaltung hingegen will die Interessenbündel in der Technikentwicklung demokratisieren und bislang nicht berücksichtigte Interessengruppen in den Gestaltungsprozess hineinnehmen.

Als in den neunziger Jahren junge, zumeist männliche, gesunde, seh- und hörfähige Entwickler ihre Produkte präsentierten, konnte man sich schnell darüber einig werden, dass das Entwicklerteam die Lebenslage von Seh- und Hörgeschädigten komplett vergessen hatte. Als Folge pluralisierte sich die Software-Szene. Von nun galt es eher als schick, neue WebSites zu kreieren, die barrierefrei sind. Dies ist ein einfaches Beispiel von Technikgestaltung, bei der „vergessene“ Interessen endlich eingebunden wurden.

Gute Technikgestaltung lebt von der Offenheit für Neues, von der Fähigkeit, andere Nutzungsinteressen zu berücksichtigen, von der Ermöglichung des noch nicht Geschaffenen. So entstehen auch soziale Innovationen, die gesellschaftlich inklusiv wirken. Was aber bedeutet es für die Potenziale innovativer Technikgestaltung, wenn die Perspektive der Möglichkeit weggedrückt und durch die „stumme Macht des Faktischen“ ersetzt wird? Wenn statt neuen Wegen nur noch das Unabänderliche zu gelten scheint?

Wenn Betriebsrätinnen und Betriebsräte darüber nachdenken, wie die Nutzung von Algorithmen und algorithmischen Entscheidungssystemen nach sozialen Schutzstandards und gesellschaftlichen Interessen offen gelegt und gestaltet werden können, suchen sie nach neuen Möglichkeiten. Das Projekt „Der mitbestimmte Algorithmus“ des Forum Soziale Technikgestaltung will dafür Lösungen beibringen. Einem solchen Suchen nach neuen Wegen wird allzugern entgegengehalten, „dass das nicht gehe“. Technik sei nun mal Technik und sie folge eigenen Gesetzen. Doch wenn man diesen „eigenen Gesetzen“ eine genauere Aufmerksamkeit schenkt, wird schnell offensichtlich, dass nur schlichte Ablehnung der Gestaltungs- und Änderungsansätze gemeint ist. Man solle sich mit dem Vorhandenen zufrieden geben. Die Ideen der anderen Möglichkeiten seien doch nur abwegig.

Für eine solche bremsende Kommunikationsstrategie der Ablehnung gibt es ein vermeintlich „neues“ und vermeintlich „modisches“ Schlagwort, das entmutigen soll und die Enttäuschung zum Tagesinhalt umwerten will. Die Unmöglichkeit der Veränderung, die Unveränderbarkeit heißt nun „das neue Normale“. In den Worten eines einflussreichen Wirtschaftsakteurs klingt die Umwertung noch klarer: „Die coronabedingte Zwangs-Digitalisierung hat viele Unternehmen zum Umdenken gezwungen. Was vor einigen Wochen noch undenkbar erschien, ist nun zu einer ,neuen Normalität‘ geworden.“ Die Wortschöpfung der „Zwangs-Digitalisierung“ zeigt eine fatale Richtung auf. An anderer Stelle wird mit der Parole „Managing The New Normal“ ein Neustart empfohlen. Der „Neustart“ klingt dabei mehr nach einem Rückstart in die Vergangenheit. Woanders vertritt man in ähnlicher Weise die Meinung, die „neue Normalität ist digital.“ Schon fordern die Anhänger der „neuen Normalität“ ein neues „Mindset“. Dies klingt nicht nach der Wahrnehmung neuer Möglichkeiten, sondern eher nach der Stabilisierung eines alten Denkens.

Erforderlich ist das Gegenteil: Die Fähigkeit, neue kreative Möglichkeiten der seit dreißig Jahren andauernden digitalen Transformation auszuloten, sie zu prüfen und partizipativ-demokratisch gestalterisch umzusetzen. Das neue „Noch-Nicht“ sollte das Normale werden.

 

Arbeitsschutz mit „DigiGAAB“: Forum Soziale Technikgestaltung unterstützt den digitalen Wandel im Handwerk

Bis zum Herbst des Jahres 2021 wird das von der Bundesregierung (BMAS) geförderte Handwerkspraxisprojekt „DigiGAAB“ mit Unterstützung durch das Forum Soziale Technikgestaltung umgesetzt. „DIGIGAAB“ steht für „Digital unterstützter Gesundheits- und Arbeitsschutz im Arbeitsprozess Bau. – Mehr Sicherheit durch Partizipation.“ Die zentrale Projektidee von „DigiGAAB“ ist es, den Gesundheits- und Arbeitsschutz in den alltäglichen Bauablauf von Unternehmen am Beispiel der Stuckateure zu integrieren. Dies gelingt am besten, wenn der Betrieb sämtliche Arbeitsprozesse mit Unterstützung von digitalen Hilfsmitteln neu organisieren und gestalten kann. Damit ein neuer, mit digitalen Hilfsmitteln unterstützter Prozess in einem Unternehmen dauerhaft funktioniert, braucht es vor allem auch die Akzeptanz und die Unterstützung der gesamten Belegschaft. Und die wird der Unternehmer nur dann bekommen, wenn er seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bereits im Entwicklungsprozess partizipieren lässt.

Ein Handwerksbetrieb wird in aller Regel nicht in der Lage sein, diese Aufgabe im üblichen Arbeitsalltag, der sich auf unterschiedlichen Baustellen abspielt, zu erproben und zu optimieren. Deshalb werden im Rahmen des Projektes im Kompetenzzentrum der Stuckateure unterschiedliche Lern- und Experimentierräume eingerichtet. Neben Fachexperten beteiligen sich auch 12 Handwerksbetriebe unterschiedlicher Größen (zwischen 3 und 80 Mitarbeiter) als aktive Projektpartner, die eigene Anforderungen, Erfahrungen und Ideen einbringen können.

Zunächst wird eine Ist-Analyse durchgeführt: Welche digitalen Hilfsmittel werden von den Unternehmen aktuell eingesetzt? Wie zufrieden sind sie mit Ihren bisherigen Lösungen? Wie stehen die Mitarbeiter zur Digitalisierung und zum Arbeits- und Gesundheitsschutz? Zusätzlich wird eine Marktrecherche nach digitalen Tools und Anwendungen durchgeführt. Anbieter und Hersteller von Software oder digital unterstützten Geräten werden angefragt und können Ihre Produkte und Lösungen mit in das Projekt einbringen.

In den Experimentierräumen lassen sich die Systeme und Techniken in einer praxisgerechten Umgebung im direkten Vergleich erproben. Bereits hier können die MitarbeiterInnen ihr Know-How einbringen und somit bei der Auswahl zukünftiger Systeme mitwirken. Dabei werden sicher auch deren Ängste und Befürchtungen vor der technischen Vernetzung eine Rolle spielen. Aber auch das spiegelt die Realität wieder, denn eine Einführung neuer Techniken und Prozesse ohne die Akzeptanz der Mitarbeiter hat auf Dauer noch nie funktioniert.

Ein weiterer Baustein der Praxis der Experimentierräume bereitet Betriebe und MitarbeiterInnen auf das betriebliche Changemanagement vor. Dabei stehen Anforderungen aus dem Wandel der Wertschöpfungsketten und der Geschäftsmodelle im Vordergrund. Workshops und Weiterbildungsangebote stärken die Umbaukompetenz im Stuckateur-Handwerk.

Schon heute ist jeder Unternehmer per Gesetz verpflichtet, zum Schutz seiner Mitarbeiter pro Baustelle eine Gefährdungsbeurteilung durchzuführen und diese schriftlich zu dokumentieren. In der Praxis tun sich die meisten Chefs häufig schwer, diesen Anforderungen nachzukommen. Daher braucht es auch die Einbeziehung der Mitarbeiter, die selbst die Verantwortung für Ihre Gesundheit erkennen und mit übernehmen müssen.

Wenn die Baustelle digital geplant wird, werden in den jeweiligen Arbeitsprozessen nicht nur Material und Ausführungstätigkeiten, sondern auch die dazugehörigen Arbeitsschutzhinweise beachtet. Im Rahmen des Arbeitsauftrages werden die notwendigen Arbeitsschutzhinweise gegeben – die dann vom zuständigen Mitarbeiter explizit bestätigt werden müssen. Werden auf der Baustelle davon abweichende Situationen vorgefunden, müssen die Mitarbeiter kurzfristig Entscheidungen treffen sowie Rückmeldung an den Chef geben können. Die Verantwortung kann nicht nur beim Chef liegen, viel mehr muss jede/r Mitarbeiter/in in ihrem/seinem Bereich die Verantwortung für ihren/seinen Gesundheitsschutz und den seiner KollegInnen übernehmen. Diese Verantwortung kann sie/er aber nur dann übernehmen, wenn bei ihr/ihm auch das dafür notwendige Wissen vorhanden ist. Dies soll über die digitale Unterstützung geleistet. Ziel ist es, dass der Gesundheits- und Arbeitsschutz über die Branchensoftware beim Einrichten des Arbeitsauftrags mit abgedeckt werden kann.

Das Forum Soziale Technikgestaltung unterstützt das INQA-Vorhaben mit seinen Kenntnissen und Erfahrungen.

Näheres zu „DigiGAAB“ siehe folgende drei Links: Betriebliches LernenRückblick, Experimentierräume

 

Perspektivwechsel in der Integrationsarbeit möglich

Die digitale Transformation erreicht immer weitere Bereiche der Arbeitswelt und der Gesellschaft. Mehr und mehr Akteure auf dem Gebiet der Sozialarbeit, die sich für Inklusion, Integration und Zusammenhalt einsetzen, suchen nach spezifischen Chancen für Menschen mit körperlichen oder kognitiven Beeinträchtigungen.

Zum Kreis der besonders innovativen Einrichtungen gehört das bhz Stuttgart e.V., ein Träger der Behindertenhilfe in Stuttgart mit diversen Standorten für ca. 400 Menschen mit ganz unterschiedlichen Behinderungen. Das jüngste öffentliche „bhz-Forum“ befasste sich mit dem Thema „Arbeit 4.0 – Arbeit für alle?!“: Wie kann es gelingen, dass auch in Zeiten von Digitalisierung und so genannter „Industrie 4.0“ Menschen mit Einschränkungen eine passende Arbeit finden?

Aus arbeitsweltlicher Sicht ermutigte dabei das Forum Soziale Technikgestaltung den sozialen Träger und sein Team, sich in die laufende, zumeist nur technik- und marktzentrierte Debatte um die Umsetzung von Vier-Null-Welten engagiert einzumischen. Derartige Träger sollten sich nicht nur mit eigenen internen Projekten abkapseln und sich nicht von anderen ab- oder ausgrenzen zu lassen. Die Inklusion von Menschen mit Beeinträchtigungen müsse eines der zentralen Motive der digitalen Transformation und der gesellschaftlichen Diskussion werden. Solche Einrichtungen sollten sich auch in die dominierenden Kernprojekte der CPS-Vorhaben hineinbegeben und dort wirken. Technische Innovationen brauchen soziale Innovationen. Gesellschaftliche und gesellschaftspolitische Prozesse dürfen nicht Ingenieur- und Informatik-Teams allein überlassen werden.

Vor allem aber bietet die Vier-Null-Welt der CPS-Technik und der „autonomen Software-Systeme“ ein Potenzial, mit dem ein Perspektivwechsel in der Schaffung von Wertschöpfung und Beschäftigung für Menschen mit Beeinträchtigungen möglich wird. Während ein nur markt- oder wettbewerbsbezogener Ansatz Technik schnell zur Rationalisierung und zum Beschäftigtenabbau formiert, könnten dagegen im Feld der sozialen Innovationen neuartige Wertschöpfungskreise dadurch wachsen, dass kluge Technik als Ermöglichende wirkt. Intelligente Assistenztechnik und humanoide Robotik erlauben es, Kompetenz- und Fähigkeits- sowie Fertigkeitslücken bei beeinträchtigen Menschen mit passgenauen smarten Lösung zu komplettieren und zu kompensieren. So lassen sich neue Aufträge aus der Realwirtschaft akquirieren. Das Team zählt.

Zielgruppenspezifische soziale Innovationen brauchen partizipativ gestaltete kluge Assistenztechniken. Deren Implementierung stärkt das Selbstbewusstsein der Zielgruppe, die mit eigener Arbeit zur Erwirtschaftung von Einkommen beitragen kann.

 

Im Gestaltungsdialog mit dem Fachkräftenachwuchs (II)

Was bedeutet „Arbeit 4.0“ und wie lässt sie sich partizipativ gestalten? Dieser Frage ging ein Seminar fortgeschrittener Studierender der Zeppelin-Universität in Friedrichshafen am Bodensee nach. Auf Einladung der „ZU“ konnte die gewerkschaftliche Sicht auf Prozesse der Digitalisierung und Virtualisierung der Arbeitsumgebungen umfangreich dargelegt werden.

In der Diskussion schälte sich ein Aspekt heraus, der aus der sozialwissenschaftlichen Erbschaft der Debatten um Technikfolgenforschung und Technikfolgenabschätzung der neunziger Jahre entlehnt wurde. Damals stellten die VertreterInnen der „TA“ die Forderung auf, dass die Anwendungen neuer Technologien am Kriterium der „Rückholbarkeit“ geprüft werden sollten. Was aber heißt „Rückholbarkeit“ bezogen auf echtzeit-strukturierte CPS-Lösungen heute? Ab welcher Stufe der Integration von aufeinander bezogener Software ist ein Software-Befehl nicht mehr rückholbar?

Aus Sicht der Studierenden entfaltete die Kontroverse um die „Rückholbarkeit“ der Wirkungen des „Internets der Dinge“ eine sehr attraktive Herausforderung. Wie ist dies theoretisch beschreibbar? Wie lässt sich der Ansatz partizipativ ausgestalten? Welche technische Realisierung wäre denkbar?