Ja zum „HomeOffice“ – Nein zum Abbau sozialer Standards

Die derzeitige Pandemie und ihre arbeitsweltlichen Folgen haben das Thema der IT-gestützten Arbeit von zuhause wieder in die Öffentlichkeit zurückgeholt. Die früher als „Mobiles Arbeiten“ oder als „Alternierende Telearbeit“ bezeichnete Variante der Arbeitsorganisation trägt heute den Namen „HomeOffice“ oder gar „Hybrides Arbeiten“. Der Inhalt dessen, was heute unter dem Begriff „HomeOffice“ läuft, hat eine lange und heftig umkämpfte Vorgeschichte. Das „HomeOffice“ ist nicht durch oder wegen Corona entstanden. Seit Anfang bzw. Mitte der neunziger Jahre haben sich Kolleginnen und Kollegen aus Betriebs- und Personalräten, aus Vertrauensleutekörpern und Gewerkschaften für dieses neue Modell der Arbeitsorganisation stark gemacht. In jahrelangen Auseinandersetzungen zwischen Geschäftsleitungen und Beschäftigtenvertretungen, zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften wurden mühsam feste Rahmenbedingungen und soziale Standards in Betriebs- und Dienstvereinbarungen errungen.

Hilfreich ist ein Blick in die Verordnung über Arbeitsstätten (Arbeitsstättenverordnung – ArbStättV). Dort heißt es in § 2 Begriffsbestimmungen unter anderem: „(7) Telearbeitsplätze sind vom Arbeitgeber fest eingerichtete Bildschirmarbeitsplätze im Privatbereich der Beschäftigten, für die der Arbeitgeber eine mit den Beschäftigten vereinbarte wöchentliche Arbeitszeit und die Dauer der Einrichtung festgelegt hat. Ein Telearbeitsplatz ist vom Arbeitgeber erst dann eingerichtet, wenn Arbeitgeber und Beschäftigte die Bedingungen der Telearbeit arbeitsvertraglich oder im Rahmen einer Vereinbarung festgelegt haben und die benötigte Ausstattung des Telearbeitsplatzes mit Mobiliar, Arbeitsmitteln einschließlich der Kommunikationseinrichtungen durch den Arbeitgeber oder eine von ihm beauftragte Person im Privatbereich des Beschäftigten bereitgestellt und installiert ist.“ Siehe ArbStättV.

Unter der falschen Parole der „Neuen Normalität“ („The New Normal“) wird von interessierter Seite der Eindruck erweckt, das „HomeOffice“ sei völlig neu und nichts habe vorher existiert. Mit dieser sprachlichen Wendung wollen manche Akteure sich um die Pflichten der errungenen Standards drücken, um die Kosten zu senken. Das klassische Beispiel ist die bereits vereinbarte Gleichstellung des außerbetrieblichen mit dem betrieblichen Arbeitsplatz. Mit anderen Worten: So wie ein Unternehmen bzw. eine Verwaltung in Betriebsräumen oder Büros die IT-Infrastruktur selbstverständlich zur Verfügung zu stellen hat, so gilt dies auch für den Arbeitsplatz zuhause. Die IT-Infrastruktur für die Arbeit zuhause ist Sache des Arbeitgebers. Es kann nicht sein, dass Arbeitnehmerrinnen und Arbeitnehmer aus lauter „Dankbarkeit“ für das „HomeOffice“ sich die Geräte auf eigene Kosten zulegen. Diese „Neue Normalität“ ist ein Rückschritt und ein vorsätzliches Abrücken von bereits rechtlich akzeptierten Standards.

Das „HomeOffice“ bietet die Chancen für mehr Selbstbestimmung in der Arbeit und für individuelle Zeitsouveränität im Rahmen ergebnisorientierter Zielvereinbarungen. Das „HomeOffice“ darf kein Baustein für den Abbau von Rechten sein. „HomeOffice“ – ja, selbstverständlich. Aber zu den vereinbarten Standards.

Weitere Informationen dazu finden sich in diesem Blog unter den Links:

 

HomeOffice-Tipp 2: Der Wunsch nach selbstbestimmtem Arbeiten ist entscheidend

Um die Möglichkeiten von HomeOffice-Lösungen besser verstehen zu können, ist es hilfreich zurückzublicken in jene Zeit, in der zum ersten Mal damit experimentiert wurde. Zum Bündel der Entstehungsgeschichten gehört vor allem der starke Impuls der sehr engagierten, selbstbewussten und technisch hoch kompetenten Frauen in den IT-Unternehmen IBM und Hewlett Packard HP. Sie starteten mit dem Wunsch nach mehr Selbstbestimmung, Autonomie und Selbstorganisation in der Arbeit. Sie wollten bessere Möglichkeiten für ihre beruflichen Laufbahnen, sie wollten Gleichberechtigung mit den Männern in der Unternehmenskultur. Sie wollten produktiver, effektiver sein, wollten sich selbst und den Männern zeigen, dass „sie was drauf hatten.“

Es ging ihnen ziemlich auf die Nerven, dass immer dann, wenn sie sich in der Arbeit auf eine Aufgabe konzentrieren wollten, ein Männerkopf um die Ecke kam mit der auffordernden Frage: „Könnten Sie mir mal kurz folgende Dinge vorbereiten?“ Diese ständigen Unterbrechungen empfanden sie als Hindernisse für ihre persönliche Karriere. Deshalb setzten sie sich zusammen und suchten zunächst Räume im Unternehmen, wohin sie sich auf Zeit zurückziehen konnten. Doch die Großraumbüros der damaligen Zeit (HP in Böblingen!) schafften keine Ruheräume. So prüften die Frauen die Erfahrungen mit den Datenübertragungen der BTX-Technik und alles, was danach kam bis zur Freischaltung des Internets im Jahr 1991. Für sie wurde klar, sie benötigten die neueste Telekommunikationstechnik, um sich auf Zeit zur Lösung von bestimmten Aufgaben, für die sie Ruhe und Konzentration benötigten, zurückziehen zu können. So wurde jener Ort ins Auge gefasst, der heute HomeOffice genannt wird.

Es zeigte sich bald, dass Frauen, die zeitweise im Unternehmen und zeitweise im HomeOffice nach eigener flexibler Zeitsouveränität arbeiteten, deutlich leistungsfähiger und fachlich kompetenter wurden als ihre männlichen Kollegen. Damit nahmen viele Männer diese Frauen im HomeOffice als Karrierekonkurrenz wahr. Der alte Macho-Geist kehrte zurück. Die Männerwelt antwortete mit berüchtigten Bildern, auf denen lächelnd strahlende junge blonde Frauen mit einem Kleinkind auf dem linken Arm und ihrer rechten Hand an der Maustaste gezeigt wurden. Das Bild sollte vermitteln: Telearbeit ist ein Mütterarbeitsplatz. Frauen sollten sich ums das Kind kümmern, zuhause bleiben und den Männern auf deren Karriereweg nicht in die Quere kommen. Plötzlich standen in den betrieblichen Diskussionen nicht mehr die Selbstbestimmung, Autonomie und Selbstorganisation im Zentrum sondern Kinder, Küche, Mütter, Heimarbeit. Dieser ideologische Schwenk nach rückwärts war teilweise erfolgreich. Viele Frauen gaben nach oder auf. Bald war die Zahl der männlichen „Teleworker“ größer als die Zahl der weiblichen „Heimarbeiterinnen“.

Aus diesem Bruch hat sich die Debatte um „Alternierende Telearbeit“ und „HomeOffice“ bis heute nicht wirklich erholt. Um den hohen starken sowie in der Sache ganz zentralen Impuls der Selbstbestimmung in der Arbeit zurückzudrängen, erfanden etwas taktisch gewieftere Männer zusätzlich die Parole von der besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf durch Telearbeit, womit letztlich wieder die kinderbetreuende Frau gemeint war. Nur wenige Männer nahmen die Vereinbarkeit für sich Ernst. Erst später konnte unter dem Dach des Begriffes „Vereinbarkeit“ auch wieder der Gleichberechtigungsanspruch Eingang in die HomeOffice-Debatte finden.

In den neunziger Jahren hatte sich das „Netzwerk Telearbeit und Frauen“ in Baden-Württemberg gegründet, um engagierten Frauen den Rücken zu stärken. Auf der sechsten Jahrestagung dieses Netzwerkes im Jahr 2002 forderte eine ihrer Sprecherinnen, Irene Scherer in ihrem Vortrag „Frauen in virtuellen Arbeitswelten“ das Aufbrechen der „strukturellen Diskriminierung von Frauen“.

Immer wieder wird das HomeOffice zum Mütterarbeitsplatz umgemünzt. So schreibt das Nürnberger IAB am 11. Sept. 2020: „Für manche Beschäftigte ist Homeoffice derzeit die einzige Option, um Kinderbetreuung und berufliche Anforderungen miteinander zu vereinbaren. Bereits vor der Covid-19-Krise haben gerade Frauen – und hier vor allem berufstätige Mütter – über ihre positiven Erfahrungen mit einem ausgewogenen Mix aus Homeoffice und Präsenztätigkeit berichtet.“

Doch der Tagtraum und die Erbschaft der damaligen Frauen mit dem Wunsch nach mehr Selbstbestimmung, Autonomie, Selbstorganisation und persönlicher Zufriedenheit in der Arbeit könnten in der aktuellen HomeOffice-Renaissance zurückkommen. Daran sollten wir nachdrücklich arbeiten.

Lesetipp aus früherer Zeit: Irene Scherer, Karin Wunderlich: Die Zähmung des Zauberlehrlings oder das Problem der Delegation. Mobiles Arbeiten und unterschiedliche Anwenderkulturen. In: Alcatel SEL Stiftung für Kommunikationsforschung, Forum Soziale Technikgestaltung (Hg.): Mobile Arbeitswelten. Soziale Gestaltung von „Electronic Mobility“. 2002, S. 187–200. ISBN 3-89376-087-3.

 

Ungleichzeitigkeiten und Latenz im Prozess der digitalen Transformation

In den meisten Kontroversen um die Wege des technologischen Umbaus der Arbeitswelt, der digitalen Transformation, finden Akteure zusammen, die unter dem Deckmantel des Pragmatischen darüber streiten, wie schnell die Nutzerin und der Nutzer qualifiziert werden können, um mit neuen Oberflächen, Displays, Software und anderen digitalen Werkzeugen umgehen zu können. Der Diskurs geht von Technik aus, konzentriert sich auf Technik und reduziert sich auf Technik. Dabei ist aus sozialwissenschaftlicher Perspektive seit spätestens den siebziger Jahren bekannt und offensichtlich, dass erfolgreiche Technikimplementierungen nur nachhaltig gelingen können, wenn die nichttechnischen Gestaltungsfaktoren wie Empfindung, Bewusstsein, Motivation, Erfahrung etc. auf gleicher Augenhöhe wie die technischen Umsetzungsinstrumente berücksichtigt und angewandt werden.

Mit anderen Worten: Wer Technikeinführungen nur technikzentriert zu realisieren sucht, wird keine dauerhafte Lösung erreichen, wird scheitern. Wirkliche Innovationsprozesse basieren jeweils zur Hälfte aus technischen und aus sozialen Innovationen. Technikeinführungen ohne Integration des „Menschelns“ bleiben teure Technikruinen. Das haben die Debatten über die menschenleere Fabrik CIM oder über betriebliche Wissensmanagement-Systeme ausgiebig gezeigt.

Mit der schrittweisen forcierten Anwendung digitaler Werkzeuge in den Arbeitswelten seit den achtziger bzw. neunziger Jahren, hat sich die Spannung zwischen der alten analogen Lebenserfahrung in dato bisherigen Arbeitsumgebungen und den neuen Erfahrungen mit Arbeitsbeziehungen unter dem Anspruch der digitalen Transformationen erheblich zugespitzt. Zwischen vertrauter Vertrautheit und nicht-vertrauter Fremdheit polarisiert das Bewusstsein der abhängig Beschäftigten.

Während im Alltag in hoher Geschwindigkeit das technisch Neue den Menschen fordert, reagiert sein Bewusstsein auf Irritationen zumeist mit Abwarten oder dem Rückgriff auf Vorhandenes. Mit alten Erfahrungen wendet sich die/der Beschäftigte dem Gewandelten zu. Wenn der Wandel zu schnell geht oder Befürchtungen auslöst, finden nicht nur Rückgriffe auf alte Erfahrungen sondern vermehrt auch Rückgriffe auf alte Erklärungsmuster statt. Wenn aber alte Erklärungen dazu herhalten müssen, Neues zu verstehen, dann verhält sich altes und neues Bewusstsein ungleichzeitig zueinander. Wenn aber vertraute Lebensmuster keinen Zugang zu Veränderungsprozessen finden, wenn alte Erfahrungen neue Erfahrungen blockieren, dann kann ein Innovationsprozess nicht erfolgreich realisiert werden.

Eine der Schlüsselherausforderungen im Prozess der digitalen Transformationen liegt in der Aufhebung der Ungleichzeitigkeiten im Bewusstsein der arbeitenden Menschen, in der Bewusstmachung intuitiver Erfahrungen und latent wirkender, gesammelter Hoffnungen wie auch Enttäuschungen. Menschen mit solchen Wahrnehmungen lassen sich nicht einseitig durch harte Technikvollzüge für neue Lösungen gewinnen.

Die Aufhebung der Ungleichzeitigkeiten verlangt die Möglichkeit zu selbstbewusstem Handeln und zu demokratischer Partizipation sowie kollegialer Selbstbestimmung. Der arbeitende Mensch muss sich selbst im Vorgang des Wandels verorten können, muss sich selbst als Subjekt der Veränderung begreifen können. Das Aufgreifen der Latenz noch-nicht-eingelöster öffentlicher Tagträume von humanen Arbeitswelten kann, wenn sie emporgehoben werden, erheblich helfen.

 

Der künstliche Mensch? Menschenbilder im 21. Jahrhundert

Unter diesem Titel haben sich Aktive aus dem Forum Soziale Technikgestaltung und aus dem Kreis der Partner zusammengefunden, um im Angesicht der sogenannten „Künstlichen Intelligenz“ Beiträge aus der Perspektive der Gewerkschaften, der Sozialwissenschaften, der Philosophie, der Religionskritik und der Jurisprudenz über den Mensch zu verfassen. Nicht die Technikanalyse steht im Vordergrund sondern die Frage nach der Rolle des Menschen und dem Menschenbild. Die Beiträge wurden zusammengeführt und als 125seitiger Schwerpunkt in dem mehr als 260 Seiten umfassenden Journal „Latenz“ im Oktober 2019 (Latenz 04/2019) veröffentlicht.

Ist die Frage nach einem ethischen Menschenbild ein überholter Romantizismus oder eine soziale Notwendigkeit der Aufklärung für den Zusammenhalt von Gesellschaften? Was sind die zukunftsweisenden Erbschaften einer Jahrhunderte übergreifenden Diskussion um das Bild des Menschen? Worauf basiert ein solidarisches Menschenbild? Welches Menschenbild transportieren die Bürger- und Menschenrechte? Wie lässt sich vermeiden, dass einseitig gesetzte und in Technik implementierte Profile von digitalen Figuren den demokratischen Regeln und Rechten der Vielfalt, der Integration und Inklusion zuwiderlaufen? Welche Konsequenzen haben die aktuellen technischen wie gesellschaftlichen Transformationsprozesse für eine philosophische Anthropologie?

Mit seinem Beitrag „Menschenbilder, Visionen, Normen: Orientierungen für ‚Gute Arbeit mit KI‘“ greift der Ver.di-Gewerkschafter Lothar Schröder in die Kontroverse um die „Künstliche Intelligenz“ ein. Aus arbeitsweltlicher Perspektive ermutigt er zur Weiterentwicklung der Humanisierung der Arbeit durch die Selbstbestimmung des Menschen: „Den Menschen als digitale Maschine zu deuten und ihn entsprechend programmierten, ‚lernenden‘ Systemen auszusetzen oder gar unterzuordnen, muss zwangsläufig zu inhumanen und inakzeptablen Resultaten führen.“

Für das „Recht auf Irrationalität“ angesichts der „zunehmenden Unbewohnbarkeit von Fiktionen“ spricht sich der Soziologe Stefan Selke aus. In Hinblick auf Big Data und die Verschiebung des Humanum durch erweiterte Digitalisierungen plädiert der Autor für die „selbstbestimmte Erzählbarkeit.“ Der Tübinger Philosoph Helmut Fahrenbach geht der anthropologischen Frage im Denken von Ernst Bloch nach. Unter dem Titel „Das Leben künstlich oder menschlich machen?“ übt Annette Schlemm philosophische Kritik an den Denkgebäuden des Transhumanismus. Sie verteidigt die zivilgesellschaftliche Vielfalt gegen technikgläubigen Reduktionismus. In brillanter Schärfe zeigt uns der Jurist Ingo Müller die Relevanz der Grundrechte auf und, „dass im Zentrum unserer Werteordnung die Grundrechte stehen, nicht Staat oder Kirche, sondern der Mensch“.

In einem Interview von Johanna Di Blasi kommt der Filmemacher Alexander Kluge zu Wort. Mit seiner Formel von der „Achtung vor Robotern“ setzt er sich mit der „sozialen Intelligenz der Maschinen und Goethes Homunculus, der klüger ist als der Mensch“ auseinander. Aus der Schweiz meldet sich Kurt Seifert mit einem philosophisch-politischen Text zu Wort: „Was fehlt? Transhumanismus als Anti-Utopie“. Mit der Widersprüchlichkeit und der historischen Belastetheit des Terminus „Der neue Mensch“ verknüpft der Autor frühe Diskussionen im Russland der zwanziger Jahre mit späteren autoritären Terrorformen Stalins und Mao Tse Tungs. Gegen eine einseitige Aufhübschung der Debatte um die sogenannten „Künstliche Intelligenz“ nimmt Welf Schröter in seiner pointierten nachdenklichen Polemik „Warum der Begriff ‚KI‘ nicht als ‚künstliche‘ sondern nur als ‚kleine‘ oder ‚keine Intelligenz‘ ausgeschrieben werden sollte“ aus gestaltungsspezifischer Sicht Stellung. Anknüpfend hat sich der Sozialwissenschaftler György Széll auf den Weg gemacht, eine umfangreiche, wertende Sammelrezension zu „KI“-Publikationen zu erstellen. Unter dem Titel „Homo sapiens demens“ bewegt er sich durch die Literatur.

Buchangaben: Latenz – Journal für Philosophie und Gesellschaft, Arbeit und Technik, Kunst und Kultur. Ausgabe 04|2019. Der Künstliche Mensch? Menschenbilder im 21. Jahrhundert. Hrsg. von Irene Scherer und Welf Schröter. Redaktion: Matthias Mayer, Mathias Richter, Inka Thunecke, Irene Scherer und Welf Schröter. 2019, 264 Seiten, 34,00 Euro, ISBN 978-3-89376-185-2.

 

Digitalisierung? Alles unter Kontrolle?

Antworten auf diese Frage will die lesenswerte neue arbeitsweltbezogene Studie „Alles unter Kontrolle?“ von Michael Schwemmle und Peter Wedde geben. Ihr Untertitel „Arbeitspolitik und Arbeitsrecht in digitalen  Zeiten“ öffnet den kritischen Blick auf Handlungsfelder der Bundespolitik und deren Defizite. Die Autoren setzen sich technikdiskurs-historisch, rechtlich und rechtspolitisch mit der regierungsamtlichen Begleitung der digitalen Transformation auseinander.

Nach der Analyse der parlamentsbezogenen öffentlichen Diskurse zur Modernisierung des Arbeitsrechtes und des Betriebsverfassungsgesetzes folgt ihre ernüchternde Schlussfolgerung: „Damit trifft die digitale Arbeit der Zukunft nach wie vor auf das an analogen Zuständen ausgerichtete Arbeitsrecht der Vergangenheit.“ Nur scheinbar zurückhaltend klingt einer ihrer Nachsätze: „Das Fehlen gesetzgeberischen Handelns hemmt das rasche Fortschreiten der Digitalisierung in keiner Weise, bewirkt aber für die digitale Arbeitswelt eine schleichende Aushöhlung des arbeitsrechtlichen Schutzrahmens, die zulasten der Beschäftigten geht, und eine zunehmende ,Entrechtlichung‘ der Arbeitsbedingungen.“

Auf über 50 DIN A4-Seiten zerlegen die Verfasser den aktuellen Zustand des Politikfeldes „Arbeit“. Die Studie zeigt dringende Reformbedarfe auf, um grundlegend die Mitbestimmung zu stärken. Es fehle an Gesetzesinitiativen für

  • „wie auch immer konditionierte Ansprüche auf selbstbestimmte mobile bzw. Telearbeit, die Erwerbstätigen eine erweiterte Orts- und Zeitsouveränität ermöglichten; 
  • ein Recht auf Nicht-Erreichbarkeit, das geeignet sein könnte, die Belastungen ausufernder arbeitsbezogener Verfügbarkeit zu begrenzen; 
  • eine Modernisierung arbeitsschutzrechtlicher Vorschriften für digital mobile Arbeit außerhalb von Betriebsstätten; 
  • eine integrale arbeits(markt)politische Agenda zur Sicherung von Beschäftigung im digitalen Umbruch; 
  • einen verbesserten Schutz von Plattformarbeiter_innen; 
  • eine Reform der Mitbestimmung, die geeignet wäre, der digital getriebenen Machtverschiebung zugunsten der Arbeitgeber_innen Schranken zu setzen; 
  • eine Absicherung der Persönlichkeitsrechte der Beschäftigten im Rahmen eines Beschäftigtendatenschutzgesetzes auf der Höhe der Zeit.“

Download der Studie 

 

125 Jahre IG Metall – 25 Jahre Internet

Die Geschichte der Arbeit ist so alt wie die Geschichte des Menschen. Das organisierte Ringen um soziale Standards in der Arbeitswelt ist deutlich jünger. Vor 125 Jahren gründeten Beschäftigte den Deutschen Metallarbeiter-Verband, eine Arbeiterorganisation, aus der sich die IG Metall entwickelte. Erst 25 Jahre ist das Internet alt. 1990/1991 startete jenes digitale Phänomen, das wir heute rückblickend „Web 1.0“ nennen.

Soziale und technische Innovationen haben den Weg geebnet zu einer mitbestimmten Arbeitswelt, wie wir sie heute kennen. Nun aber stehen wir an der Schwelle zu einem tiefgreifenden Wandel der Arbeit. Die Umrisse von „Arbeit 4.0“ sind erst unscharf wahrzunehmen. Sogenannte „autonome Systeme“ im digitalen und virtuellen Raum verschieben die „Handlungsträgerschaft“: Mehr und mehr gehen Entscheidungsvorgänge vom Menschen weg auf technische Werkzeuge über, die als „lernende Systeme“ beschrieben werden. Nun müssen die sozialen Standards bekräftigt und neu definiert werden. Einer der Gestaltungsbausteine ist das Ringen um Zeitsouveränität.

Anlässlich des IG Metall-Jubiläums betonte deshalb Jörg Hofmann, Erster Vorsitzender der IG Metall: „Wir müssen Lösungen finden für sichere Arbeitszeiten, die für jeden planbar sind. Dabei muss jede geleistete Arbeitszeit erfasst und vergütet werden. Und darüber hinaus brauchen wir ein Mehr an selbstbestimmter Arbeitszeit, die Platz gibt für individuelle Anforderungen wie Kindererziehung, Pflege oder berufliche Weiterbildung.“

 

Wenn Technik dem arbeitenden Menschen vorausdenkt …

Mit der Entwicklung der CPS-Technik tritt den Betriebsräten, Vertrauensleuten und Gewerkschaften eine richtig dicke Nuss entgegen. Die will erstmal geknackt sein. Doch dies geht nicht allein mit dem traditionellen Denkansatz der räumlichen und zeitlichen Gestaltung des Arbeitsplatzes.

Was heute CPS heisst (Abkürzung für Cyber Physical System) nannte sich vor Jahren schon das Internet der Dinge oder RFID. Unscharf ausgedrückt ist es der Sensor-Chip am Gegenstand. Das neue an CPS ist nicht der Sensor, nicht der Chip und auch nicht seine Zuordnung zum Gegenstand.

Neu ist die Qualität seiner Anbindung an das globale Netz. CPS ist kein statisches Gebilde, was als einmal hergestellt immer so bleibt. Da CPS ständig am Netz immer Daten empfangen und immer Daten senden kann, verfügt es über die Eigenschaft, die Techniker gerne als „Denken“ bezeichnen. CPS sammelt. CPS „denkt“. CPS „lernt“. Herausfordernd wird es, wenn CPS-Einheiten dem arbeitenden Menschen Vorgaben machen, den Takt geben und dem Menschen in den Handlungsschritten voraus sind. Wenn sie durch das ständige Empfangen neuer Daten dem Menschen ständig voraus sind. In Echtzeit. Die IT-Leute sagen: „CPS denkt voraus.“

Das Internet der Dinge ist nicht mehr statisch. Es lernt. Es geht dem Menschen voran. – Was bedeutet dies aber für die Forderung nach Selbstbestimmung in der Arbeit und für die Humanisierung der Arbeit? Momentan sieht es so aus, dass entweder die CPS-Technologie verändert und dem Menschen angepasst werden muss oder aber der arbeitsweltliche Gestaltungs- und Humanisierungsansatz zu greifen hat, bevor das CPS in seine Echtzeit-Welt gestartet wird.

Dann wäre die Gestaltung erforderlich auf der Ebene der Prozessorganisation, der komplexen Prozessorganisation. Nur so ließe sich die Beschleunigungswirkung von Echtzeitanwendungen positiv beeinflussen. So ließe sich nachhaltig vermeiden, dass der arbeitende Mensch nur noch zum taktgebundenen Assistent des CPS verwandelt würde. – Wir müssen neu (nach)denken.

Vertrauensleute wollen die Arbeit der Zukunft mitgestalten

Unter dem Motto „So wollen wir arbeiten“ diskutierte die Versammlung der Vertrauensleute im Produktionsstandort VW Nutzfahrzeuge Hannover die Zukunft der Arbeit. Vom „Büro der Zukunft“ über Herausforderungen für Tarifverträge durch „Arbeit 4.0“, von den modernen Logistikkonzepten und dem 3-D-Druck bis hin zur neuen Menschen-Roboter-Zusammenarbeit (Mensch-Roboter-Interaktion MRI) reichten die Fragestellungen. Welf Schröter, Moderator des Blogs Zukunft der Arbeit und Leiter des Forums Soziale Technikgestaltung hob die Chancen und Potenziale von „Industrie 4.0“ für die Humanisierung der Arbeitswelten hervor.

Grafic Monitoring von Anja Weiss (www.anja-weiss.com)

Grafic Monitoring von Anja Weiss (www.anja-weiss.com)

Der Referent betonte unter anderem, dass gerade die weitreichende Verknüpfung von materieller und nicht-materieller Arbeit, von Gegenständen und dem „Internet der Dinge“, vom Sensor-Chip am Gegenstand (CPS) und der virtuellen Weiterverarbeitung von dessen Daten eine große Herausforderung für die Würde der Arbeit darstelle.

Es gelte, die Selbstbestimmung des Menschen gegen die einseitige Taktgeberschaft „intelligenter“ Technik zu wahren. Die IT-Technik sei eine offene Technologie und grundsätzlich gestaltbar. Entscheidend sei, die Interessen hinter der Technik zu erkennen. Deshalb sei es wichtig, dass Betriebsräte wieder vermehrt soziale Technikgestaltung als Ort der Interessensdurchsetzung nutzen.